Unter Engeln

von Uma

Ich wünsche euch eine besinnliche und fröhliche Winterzeit  Ute-Maria oder kurz Uma

Unter Engeln

Ich sitze neben meiner Mutter am Tisch. Sie lehnt sich in ihren Rollstuhl zurück. Seit dem sie diesen benutzt, lässt sie sich am liebsten verpflegen. Ich weiß, sie kann noch essen, wenn auch mit zittrigen Händen und sicher würden ein paar Krümel auf der Serviette landen. Doch wenn sie nicht gefüttert wird, isst sie fast gar nichts.

Zwei ältere Damen sitzen uns gegenüber und eine dritte muss sich an einem anderen Tisch hinter unserem Blickfeld befinden. Ich erinnere mich, dort jemanden gesehen zu haben, als ich Mama in den Speiseraum schob. In der Mitte des großen Esstischs befinden sich selbst gebastelte Engel aus Korken mit Flügeln aus Schleifen. Als Kopf haben sie eine Kugel mit einem golden Draht.

Es ist still im Raum, in dem doch sonst irgendein älterer Mensch fünf Male in der Minute „Hallo“ schreit, häufig ein Radio läuft, Bewohner des Pflegeheims aus ihrem Leben erzählen, manch eine stöhnt und eine Frau mit Kopftuch auf Türkisch vor sich hinbrabbelt... Ich nehme an, dass es sich um diese Sprache handelte, weil so viele „Üs“ darin vorkommen. Die heute Anwesenden haben bereits gefrühstückt und starren auf uns. Sie verfolgen mit ihren Augen, wenn ich ein Gabelstück Toast aufspieße, es in den Kaffee tunke, dann meine linke Hand unter den tropfenden Bissen halte und beide Hände auf einander abgestimmt zu Mamas Mund führe. Während sie diesen schon ab dem Moment geöffent hält, wenn der Bissen sich in der Reichweite befindet, in der er noch ohne Anstrengung von den Augen wahrgenommen wird. Wahrscheinlich habe ich das eine oder andere Mal ebenfalls meinen Mund mit geöffnet, so wie ich es früher bei meinen Kinder getan habe. Hin und wieder wische ich vorsichtig mit der Serviette kleine Kaffeetropfen aus Mutters Gesicht.

Es ist noch immer völlig ruhig. Mama selbst sagt seit einiger Zeit fast nichts mehr, deutet lieber, wenn sie etwas will, als ob Sprache oder Laute irgendeinen wichtigen Prozess ihres Sterbens unterbrechen würden. Mir ist es recht, ich mag die Stille, die von ihr ausgeht. Auch von den Bewohnerinnen, die uns zuschauen, geht diese Ruhe aus. Wenn ich sie anschaue, sitzen sie regungslos wie auf einem Foto. Die Augen wach auf uns gerichtet. Diese Art der Aufmerksamkeit tut mir gut. In ihren Blicken gibt es keine Signale für eine Bewertung oder Interpretation. Sie schauen einfach und ihre Art das zu tun, macht es mir so leicht, ebenfalls zu schauen, ohne dass dabei in mir Gedanken entstehen.

Eine der Frauen beginnt zu sprechen, ein paar Brocken deutsch vermischt mit einer fremden Sprache, macht Zeichen mit ihrer Hand, ahmt meine Handbewegung des Fütterns nach und nickt: „Gut!“ Dann verwendet sie wieder mir unbekannte Worte. Eines lautet: „Babuschka“. Sie klopft sich aufs Herz. In ihren Augen bilden sich kleine Tränen. Ich interpretiere ihre Gesten und Worte, dass es sie berührt, was ich tue. Unsere Augen verbinden sich für einige Augenblicke und ich erkenne Wohlwollen und Wärme. Sie redet, ich nehme an es ist russisch. Ich habe nur das Wort „Babuschka“ als Orientierung für meine Annahme. So viel ich weiß, bedeutet „Babuschka“ Großmutter. Doch es würde zu viel Lärm machen, zu vermitteln, dass es sich um meine Mutter handelt. Dann ist es wieder still, engelsstill. Engel machen keine Geräusche, wenn sie kommen und gehen.

Mama dreht häufiger den Kopf zur Seite, wenn sie einen Bissen auf sich zukommen sieht und den Mund macht sie auch nicht mehr auf. Sie wird wohl genug gefrühstückt haben. Ich wische ihr wieder über den Mund und stelle die Frühstückgegenstände zusammen. Die russische(?) Frau spricht, schaut mich an, klopft wieder mit der Hand auf die Brust, nimmt einen Teelöffel, der noch auf dem Tisch liegt und sagt: „Ich schenken. Kannst du nehmen!“ Sie übergibt mir den benutzten Teelöffel. Sie senkt das Gesicht ein wenig, lächelt gütig und nickt mit dem Kopf. Ich stecke den Löffel ein, sage Danke und habe Tränen in den Augen. Ich bin berührt, verbunden mit einer Wahrhaftigkeit, die völlig im Gegensatz zu dem steht, wie ich sonst eine Frau einstufen würde, die mir einen verklebten Kaffeelöffel schenkt, der nicht mal ihr gehört. Ich verstehe und spüre wie die Eigenschaften „nackt“ und „bloß“, mit der das Jesuskind charakterisiert wird, gemeint sein können: Dieser Mensch hatte keine Möglichkeit, irgendetwas vorzumachen oder etwas vom eigenen Sein zu verbergen. Genau so erlebe ich mich gerade. Diese Frau zeigt mit dem Finger auf ihre Tränen, deutet dann auch mich und sagt etwas in ihrer Sprache. Ich fühle mich sehr verletzlich und gleichzeitig in einer völlig neuen Wahrheit geborgen. Auf dem Tisch liegen selbst gebastelte Engel aus Korken.

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